DER CHOR ALS ECHORAUM

EIN GESPRÄCH MIT ULRICH RASCHE

 

Verdrängte Emotionen, die soziale Funktion chorischen Theaters, und das (Un-)Recht in Klytämnestra eine kaltblütige Rächerin zu sehen. Regisseur Ulrich Rasche im Gespräch mit Dramaturg Michael Billenkamp über «Agamemnon» und seine Adaption antiker Theaterästhetik.

 

Eigentlich müsste der erste Teil von Aischylos’ «Orestie» nicht «Agamemnon», sondern «Klytämnestra» heißen. Denn sie ist die eigentliche Hauptfigur des Stücks und Aischylos zeichnet sie als eine der ganz großen, gleichzeitig aber auch umstrittensten Frauengestalten in der Literaturgeschichte. Einige Interpret*innen haben sich sogar so weit aus dem Fenster gelehnt und sie als die «übelste aller Frauen» bezeichnet. Hat sie für dich diesen Ruf zu Recht oder zu Unrecht?

 

Tatsächlich zeigt Aischylos gleich zu Beginn des Stücks die Figur der Klytämnestra von ihrer abstoßendsten Seite. Nach zehn Jahren Krieg gegen Troja kehrt ihr Mann Agamemnon – gleichzeitig auch der König von Argos – zurück und sie empfängt ihn so, als hätte sie eigens für ihn ein Theaterstück minutiös einstudiert. Sie heißt ihn auf der Schwelle des Palastes mit den höchsten rhetorischen Weihen und Ehrungen vor aller Öffentlichkeit willkommen. In Wahrheit aber will sie Agamemnon mit ihren Schmeicheleien nur in die vorbereitete Falle locken. Ein Netz, worin er dann hilflos gefangen von Klytämnestras Liebhaber Ägisth mit dem Beil erschlagen wird. Dieser Monolog ist ohne Frage ein Höhepunkt der europäischen Dramenliteratur. Zugleich wird den Zuschauer*innen darüber aber auch bewusst, wie viel unbedingten Rachewillen und perfide Präzision sie in die Planung dieses Anschlags gesteckt haben muss. Wer die Vorgeschichte zur «Orestie» aber nicht kennt, wird in dieser monströsen Tat allein nur die gewaltige Abgründigkeit dieser Figur erkennen. Tatsächlich aber hat Klytämnestra auch triftige Gründe, um sich an ihrem Mann Agamemnon zu rächen.

 

Du spielst mit der Vorgeschichte einerseits auf den Fluch an, der auf dem ganzen Geschlecht der Atriden liegt und der für jeden Tropfen vergossenen Blutes wieder neues fordert. Andererseits aber auch auf die Tötung Iphigenies durch ihren Vater Agamemnon.

 

Ja, denn hatte nicht Agamemnon gegen den Willen Klytämnestras ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Artemis am Altar zum Opfer gebracht? Zum einen, um deren Zorn zu besänftigen und zum anderen, damit die Göttin ihm für seine Kriegsflotte auf dem Weg nach Troja «günstige Winde» verschafft. Wenn man sich diese Motivation vor Augen führt, erscheint Klytämnestras Argumentation am Ende nachvollziehbar. Sie setzt in ihrer späteren Rechtfertigungsrede ihre Tat zu Agamemnons Blindheit und Skrupellosigkeit ins Verhältnis, gerade im Hinblick auf das Leben seiner eigenen Tochter, aber auch zu den mit der Opferung verbundenen militärischen Zielen. Aischylos zeigt sich hier als der große Denker und Dramatiker, der trotz aller Abgründe innerhalb der menschlichen Existenz, immer auch die andere Seite glaubhaft zu zeigen vermag und es sich mit einem abschließenden Urteil selbst nie zu einfach macht.

 

Du hast gerade Agamemnons Opferung seiner Tochter Iphigenie erwähnt. Trotzdem wird er für diesen Mord bei Aischylos nicht angeklagt, sondern er kehrt vielmehr als großer Feldherr und Besieger Trojas nach Hause zurück, wo er vom Volk entsprechend als Held gefeiert wird. Held oder Mörder – was ist Agamemnon bei dir?

 

Im Bewusstsein um den Mord an seiner eigenen Tochter und den Kriegsverbrechen, die er und seine Krieger bei der Erstürmung Trojas begangen haben – darauf weist auch der Bote in seinem Bericht hin –, schien es uns falsch, Agamemnon als siegreichen Helden auf die Bühne zu bringen. Zehn Jahre dauerte der Krieg und der größte Teil seiner Soldaten und Wegbegleiter, darunter auch sein Bruder Menelaos, sind nicht mit ihm zurückgekehrt. Ein Held, dessen Charakter nicht von diesen Verlusten gekennzeichnet ist, dessen Agieren im Krieg keine sichtbaren Narben hinterlassen hat, schien uns deshalb nicht überzeugend. Interessant ist, dass Aischylos in seinem Stück diese Zweifel an Agamemnons Verhalten ebenfalls benennt. So wird er unmittelbar nach seiner Ankunft in der Stadt bereits vom Chor mit Fragen und Bedenken zur Sinnhaftigkeit seines Handelns empfangen. Er ist also auch bei Aischylos ein Held mit dunklen Schatten.

 

Sprache, Rhythmus, Bewegung und Musik sind die zentralen Elemente deiner Arbeit. Warum hast du dich gemeinsam mit deinem Komponisten Nico van Wersch entschieden, für «Agamemnon» nur mit Schlagwerken aus unterschiedlichsten Materialien zu arbeiten? War diese Wahl auch dem Premierenort, dem Amphitheater in Epidaurus, geschuldet?

 

Der Ort Epidaurus hatte sicher sehr viel damit zu tun. Nico hat für unsere Inszenierung von «Agamemnon» beim Athens Epidaurus Festival 2022 deshalb auch eigene Instrumente erfunden und bauen lassen. Er benutzt zusammen mit seinen Musiker*innen unbehandelte Holzbalken, die an ein übergroßes antikes Marimbaphon erinnern. Die archaische Kraft, die vom Klang der Hölzer ausgeht, schien uns passend für das antike Theater in Epidaurus und das Stück von Aischylos. Der performative Gestus, der von den perkussiven Schlägen der Band ausgeht, bestimmt zudem den Grundpuls des Abends. Die Musiker*innen stehen mitten auf der Bühne auf einem rotierenden Steg, der den Chor und die Protagonist*innen des Stücks antreibt und permanent in Bewegung hält. Mir war es wichtig, eine Nähe zu der ursprünglichen Aufführungspraxis eines singenden und tanzenden griechischen Chores herzustellen. Tatsächlich leitet sich meine gesamte Theaterästhetik vom Ursprung des dionysischen Kultus ab und sollte in Epidaurus, an der Wiege des europäischen Theaters, seine Entsprechung finden. Vor der Reaktion des Publikums in Epidaurus hatte ich darum auch großen Respekt. Schließlich ist es ihre Kultur, die ich mir über Jahre hinweg zur Inspirationsquelle und Vorbild gemacht habe. Dass die Reaktionen des griechischen Publikums auf unsere Arbeit dann am Ende so positiv waren, hat mich deshalb wirklich gefreut.

 

Du hast gerade das wichtige Stichwort Chor erwähnt, der in all deinen Inszenierungen eine entscheidende Rolle spielt. Auch hast du angesprochen, dass du mit dieser Arbeit näher an die antike Aufführungspraxis heran wolltest. Das Theater zu Zeiten Aischylos’ war ja nicht nur ein gesellschaftliches Ereignis, es hatte darüber hinaus auch eine wichtige politische Bedeutung. Welche Rolle spielt der Chor in «Agamemnon» als gesellschaftliche oder politische Stimme des Volkes bei dir?

 

Wir haben «Agamemnon» als Bewältigung eines von einem Kollektiv gemeinsam erlebten Krieges gelesen. Fast die gesamte erste Hälfte des Stücks erzählt der Chor bei Aischylos von seinen Ängsten und Hoffnungen, die im unmittelbaren Zusammenhang des Krieges stehen. Auch die daraus resultierenden sozialen Konsequenzen, die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft, dass zum Beispiel das Leid des Kriegs nicht gleichmäßig auf alle Einwohner verteilt ist, werden darin angesprochen. Wessen Ehemann oder Sohn als Staub in einer Urne aus Troja zurückgekehrt ist, der will nicht verstehen und akzeptieren, warum den Nachbarn nicht dasselbe Schicksal ereilt hat. Der Chor vergegenwärtigt also sich und damit auch den Zuschauer*innen, was jahrelang verdrängt wurde, welche Wut unter der Oberfläche gährte – das alles kommt durch das Kriegsende jetzt nach oben. Aischylos selbst hat als Soldat in beiden Perserkriegen auf der Seite der Griechen gekämpft. Seine Erlebnisse und Erfahrungen finden im Chor von «Agamemnon» ihren direkten Ausdruck. Wir haben «Agamemnon» bereits vor über einem Jahr, kurz nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine geprobt. Schon damals bildete der Chor für uns auch einen Echoraum, in dem unsere Verzweiflung, Wut und Ängste ihren Ausdruck fanden. Jetzt gerade stehen wir erneut fassungslos vor den Gräueltaten, die in Israel verübt wurden und auch welche schmerzvollen Konsequenzen mit der Verteidigung des Landes verbunden sind. Dem chorischen Theater kommt heute in Anlehnung an das antike Theater und seiner damaligen gesellschaftlichen Bedeutung eine ganz wesentliche soziale Funktion zu. Denn wo haben wir sonst noch die Möglichkeit, unseren traumatisierenden Erfahrungen Ausdruck zu verleihen, wenn nicht im Theater? Wir sitzen vor unseren Bildschirmen, lesen, hören und sehen unentwegt von unermesslichem menschlichen Leid und finden keine Möglichkeit, das Erfahrene zu bewältigen. Die Vergegenwärtigung unserer verdrängten Emotionen im Theater halte ich für einen unermesslichen Wert.

«Denn wo haben wir sonst noch die Möglichkeit, unseren traumatisierenden Erfahrungen Ausdruck zu verleihen, wenn nicht im Theater?»

 


Das Programmheft zu «Agamemnon» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.